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Umbauen statt abreißen, bitte

Ich schlendere gerne zu allen Jahreszeiten zu Fuß oder mit dem Rad durch meine Wahlheimat Tübingen. Vielen gilt sie als Öko-Paradies im sonnigen Süden. Manches ist hier anders, mehr PV an der Fassade und auf den Dächern, seit kurzem auch in den Abfahrtsorten der Bundesstraße, Solarpflicht im Neubau, Passivhäuser. Doch eines ist gleich wie in anderen Städten: Wenn man durch die Viertel streift, in denen in den 1950er Jahren gebaut wurde, fragt man sich allerdings, ob Abrissbirne und Betonmischer die richtigen Instrumente für Klimaschutz sind. Bausub-
stanz aus dieser Zeit wird vernichtet und kommt auf den Müll, statt Gärten und Hecken entstehen voluminöse Dreifach-Stellplätze für alle verfügbaren SUVs, mit oder ohne E auf dem Kennzeichen.

Klar, viel der in den Nachkriegsjahren entstandenen Bausubstanz entspricht nicht mehr den heutigen Ansprüchen an Wohnkomfort und Energieeffizienz. Aber: In Deutschland entstehen jedes Jahr 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle, schreibt die Initiative Abrissmoratorium. Ihr gehören Architektenverbände und Umweltorganisationen an, die vor kurzem einen Brief an Bundesbauministerin Klara Geywitz verfasst haben. Darin fordern sie einen stärkeren Fokus auf Umbau und Sanierung anstatt auf Neubau.

Die Diskussion um Erhalt oder Abriss und Neubau hat viele Facetten. Es geht um einen sorgsamen Umgang mit Ressourcen. So sind Neubauten natürlich heute per se (hoffentlich) energieeffizienter als der Bestand. Aber in den Baustoffen steckt viel graue Energie, und die Entsorgung der Abrissmaterialien verbraucht Deponieraum und vernichtet in den Bestandsbauten vorhandene Ressourcen.

Das ist aber nicht alles. Ein Anliegen muss es auch sein, dass nicht komplette Epochen der Geschichte aus dem Stadtbild verschwinden. Ein Aspekt dabei ist die Architekturhistorie, ein weiterer die Alltags-
geschichte, die sich mit Orten verbindet. Manche Schule oder Sporthalle aus den 1960er Jahren sind nicht nur Hüllen, sondern auch Zeitzeugen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Veränderungen, die an ihnen ablesbar sind und sich auch mithilfe von Gebäuden erzählen lassen.

Das hört sich für Sie alles ziemlich retro an? Ist es aber nicht. So schlägt die Initiative Abrissmoratorium unter anderem die Förderung von Re-Use-Konzepten in der Architekturpraxis, die Unterstützung bei der Nutzung wiederverwendbarer Bauteile, die Errichtung dezentraler Bauteillager und digitaler Bauteilbörsen vor. Das finde ich nicht retro, sondern frisch, innovativ und verantwortlich.

Wie können Fenster konstruiert sein, dass sie gut zerlegbar und sogar aufrüstbar sind für neue Anforderungen? Wie sehen Fassadenkonzepte aus, die eine einfache Trennung und Wiederverwertung der Materialien erlauben? Welche digitalen Werkzeuge und Lösungen werden benötigt, um Bauteilbörsen alltagstauglich zu machen? Und welchen Platz hat das alles in der Energieberatung, welche Rolle spielen Energieberaterinnen und Energieberater in diesen Prozessen? Wie können sie Kundinnen und Kunden von Umbau statt Abriss überzeugen? Ist das überhaupt ihre Aufgabe? Neben dem Thema der Nachhaltigkeit halte ich das für eine Aufgabe, über die es sich zu diskutieren lohnt.

Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen

Ihr GEB Redaktionsteam