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Schmutzige Politik mit Toten

Nach dem Brand des Grenfell Tower rufen deutsche Feuerwehrverbände nach einem Verbot von Polystyrol. Wie kann das sein?

Das ist Irreführung und zeigt starke Kenntnismängel bei den sich jetzt äußernden Feuerwehren. Am Grenfell Tower war kein Polystyrol verbaut und auch kein WDVS, sondern der Dämmstoff PIR innerhalb einer Vorhangfassade. Deren äußerer Wetterschutz, bestehend aus einer Verbundplatte aus Aluminium mit etwa 15 mm Polyethylen dazwischen, hat an erster Stelle die Brandweiterleitung nach oben unterstützt. Er brannte sogar nach unten, wie eine Kerze. Aber wohlgemerkt: Unterstützt. Denn den Brandverlauf an Hochhäusern bestimmt sehr stark die Thermik der Brandgase. Man sieht am Tower ab dem 4. Stock, wo der Brand entstanden war, dass die Dämmplatten einige Stockwerke hoch fast unzerstört geblieben sind. Erst viel weiter oben an der Hochhausfassade, wo stundenlang die heißen Brandgase aller unteren Stockwerke an der Fassade hochströmten, ist ihre Dicke dezimiert. Diese Thermik kann bei Bränden an Hochhäusern verheerende Folgen haben – selbst wer es schafft, aufs Dach zu flüchten, ist nicht in Sicherheit, weil die Hubschrauber wegen Rauch und Hitze nicht landen können. Das relativiert die bei uns behauptete Bedeutung der Dämmstoffe für den Brandverlauf deutlich.

Man hat den Eindruck, stattdessen bläst man zum Generalangriff auf das WDVS aus Polystyrol?

Manche Feuerwehren haben sich hierzulande auf das Polystyrol geradezu eingeschossen. Man übersetzte den Begriff „Cladding“ falsch mit „Dämmung“. Vor Spekulationen hatte übrigens die Londoner Feuerwehr gleich zu Anfang gewarnt. Dann begann die Flucht nach vorn, indem man das Dämmsystem WDVS und das Polystyrol angriff. Der Hessische Feuerwehrverband forderte sogar ein Verbot. Dabei nutzen die beteiligten Feuerwehren und ihre Verbände die Fehlinformationen, die von ihnen selbst ausgingen. Das ist moralisch unanständig. Sie laufen damit Gefahr, sich vor Fachwelt und Behörden nachhaltig zu blamieren. Das WDVS hat mit dem Brandfall von London nichts zu tun und ist hierzulande laut Feuerwehrstatistik mit sechs bis acht Brandfällen pro Jahr ein extrem sicheres Fassadendämmsystem. Die Passivhaushauptstadt Frankfurt ist statistisch total erfasst und zählt 0,9 Brandfälle mit WDVS-Beteiligung pro Jahr, 80 % davon übrigens Bagatellbrände.

Neben der Fassade spielten im Grenfell Tower doch weitere Faktoren gewiss eine Rolle?

Die englische Presse ist voller Aufzählungen atemberaubender brandschutztechnischer Mängel. Das Haus hat wegen solcher Mängel auch von innen her gebrannt. Wenn man bei der Beurteilung von Bränden die Rolle neuer Baumaterialien herausarbeiten will, muss man sie mit Bränden am selben Gebäudetyp vergleichen, an denen die neuen Materialien nicht verbaut waren. Ein solcher „Referenzbrand“ ist der Hochhausbrand in Sao Paulo von 1974: Dort wurde ein ungedämmtes 25-stöckiges Bürohochhaus aus Beton vom 12 bis zum 25. Stock binnen weniger Stunden zerstört. Der Brandüberschlag erfolgte ebenfalls über die Fassade jeweils in die Fenster so schnell, dass 179 Menschen starben. Innerhalb von 30 Minuten brannten alle 13 Etagen. Aus den Fenstern schlugen Flammen mehrere Stockwerke hoch heraus. All das sehen wir am Grenfell Tower auch. Der Dämmstoff PIR klebt auf allen Fotos nach fünf Stunden Brand mit Temperaturen bis 900 °C immer noch auf großen Teilen der Fassade und hat stellenweise noch seine gelbliche Originalfarbe. PIR ist kein Thermoplast, sein „Körper“ bleibt beim Brand erhalten, es bildet eine verkohlte äußere Schutzzone, die zusammen mit der guten Dämmwirkung die Hitze abhält.

Nun sollen in Deutschland auch die Gebäude unter 22 m Höhe nachgebessert werden, fordern die Feuerwehren. Bringt das mehr Sicherheit?

Wer die obige Statistik zur Kenntnis nimmt und sich mit Brandverläufen beschäftigt, weiß, dass der Brandüberschlag von Stockwerk zu Stockwerk ein physikalisch zwingendes Brandverhalten ist, völlig unabhängig davon, ob die Fassade gedämmt ist oder nicht. Sehr häufig steckt das Feuer von brennenden Mülltonen in Deutschland die Dächer von Einfamilienhäusern in Brand, weil ihre Flammen bis zu fünf Meter hoch schlagen, bei Containern sogar bis zu zehn Metern. Ist ein WDVS auf der Fassade, kommt der Brand in die Frankfurter Feuerwehrstatistik – er wäre aber bei ungedämmter Fassade nicht anders verlaufen. Die physikalische Brandsystematik bekommen wir auch mit nichtbrennbaren Fassaden und noch mehr Brandriegeln nicht weg. Sogar die Frankfurter Feuerwehr urteilt zum Brandüberschlag bei einem Hochhaus: „Die Forderung nach einer 1 m (hohen) feuerbeständigen Brüstung ist wirkungslos.“. Weil sie von den Brandwalzen aus den Fenstern überrannt wird. Genau das ist in London passiert.

Gibt es ein Null-Brandrisiko? Wie realistisch ist das unbrennbare Haus?

Es brennt in Deutschland etwa 180.000 Mal im Jahr, und 80 % der Brände gehen von Zimmerbränden aus, wie beim Grenfell Tower. Diese Brände werden nicht durch Dämmstoffe ausgelöst, sondern durch die üblichen Brandursachen, von menschlichem Fehlverhalten bis Kurzschluss. Deshalb wird es bei zunehmender Dämmung an unseren Häusern nicht öfter brennen, sondern anders. Und dieses Brandverhalten haben wir beim WDVS mit den Beschlüssen von 2015 auch bei schwer entflammbaren Dämmstoffen mehr als im Griff. Es wäre aber trotzdem ein Fortschritt, wenn wir in Deutschland endlich eine systematische Brandforschung bekämen, die vorausschauend tätig wäre, weil sie finanziell gut ausgestattet würde. Bisher muss immer erst etwas passieren, bevor unter medialem Sensationsdruck hektische Beschlüsse gefasst werden.

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